Sonntag, 7. Juni 2015

(versuchte) ablenkung

Leider ist es am Freitagabend dann richtig ausgeartet. Nicht äusserlich, aber innerlich. Immerhin hatte ich einen Arbeitstag ohne meine ehemalige Chefin, aber mit dem neuen Chef. Und es tut so gut, wenn man am Schreibtisch sitzt und nicht dauerhaft angespannt ist. Immer auf der lauer wartend, ob sie wieder um die Ecke kommt, mal meckernd, mal erniedrigend, mal einfach so. Ein ganz komisches und ungewohntes Gefühl, vor allem traue ich dieser Sache noch nicht ganz. Ich bin übervorsichtig.

Menschen vergessen leider oft (darunter bin auch ich selbst), dass "wir" Borderliner eine enorme Spannung im Körper haben - selbst, wenn wir im "Ruhemodus" sind. Es ist so, wie wenn ein normaler Mensch erhöhten Stress hat. Das ist bei mir Normalzustand. Ich starte schon mit dieser Spannung in den Tag.

Aktuell liegt diese natürlich höher. Und ich merke es auch körperlich. Meine linke Brusthälfte schmerzt wieder und verkrampft sich fast stündlich. Ich habe nachts mindestens zwei Mal starke Wadenkrämpfe und auch sonst bin ich durch und durch angespannt. Eigentlich würde mir so ein Tag im Thermalbad gut tun, aber nicht bei dieser Hitze :-).

Nach dem Arbeiten bin ich am Freitag einkaufen gefahren. Stand ein wenig im Stau, aber genau das hat mir gut getan. Autofahren hilft mir bei der Regulation. Ich liebe es so oder so von Natur aus schon, und dieses monotone Motorengeräusch, diese laute Musik, dieses "sich konzentrieren" müssen auf andere... Ich bin eher kognitiv ansprechbar, ich muss über Gedanken wieder zu mir kommen. Ich brauche äussere Impulse und das ist alles beim Autofahren gegeben. Und in einem stockenden Verkehr muss ich mich umso mehr um mich, meine Sicherheit und das rundherum konzentrieren.

Beim Einkaufen ist es natürlich ausgeartet. Ich habe doch ein wenig viel ausgegeben, aber es war mir so etwas von gleichgültig in diesem Moment. Man kann es nicht verstehen, wenn man ein Suchtverhalten an sich nicht kennt. Von aussen kann man immer sagen, dass es leicht ist. Das man nur diszipliniert sein muss und bla bla bla. Klar, ich schaffe es teilweise mit der Disziplin. Aber dafür artet es ein anderes Mal umso heftiger aus. Und wenn man meine Option Schneiden oder Fressen kennt, dann ist mir mein Geld so etwas von egal in diesem Moment, solange ich mir selbst nicht die Arme verletze.

Es gab ein paar Momente, in denen ich einfach drehen wollte. Egal, wie nahe ich diesem Shoppingcenter war. Aber ich hatte keine Kraft zum Kämpfen. Vor allem wollte ich mich bestrafen. Es sollte wehtun. Ich wollte mich irgendwie spüren. Spüren, wie weh ich mir selbst tue. Wie sich mein Hass auf das alles anfühlt und welche Auswirkungen er hat. Wie satt ich es habe, wie satt ich mir bin, wie gleichgültig vor allem.

Ich kam nach Hause und trug die Tüten offen. Meine Mutter sollte es sehen, vielleicht hätte dies gut getan. Weil dann wäre ich gerastet und hätte einfach dem ganzen Frust seinen Lauf gelassen. Aber meine Familie war mit Abendessen beschäftigt. Ich ging früh zu Bett, mit Temesta vollgepumpt, verheulten Augen und Kraftlosigkeit.

Es konnte nur besser werden. Am Samstag fühlte ich mich erst recht leer und kraftlos. Aber lieber diese leere, als diese Gedanken und diese schrecklichen Gefühle. Einfach irgendwie funktionieren, das ist mir am liebsten. Ich lag einfach stundenlang in der Sonne und im Schatten im Liegestuhl und genoss die Wärme, diese Hitze und ein gutes Buch lesen. Schila kam natürlich immer mal wieder vorbei. Hunde sind da genial, die kommen einfach und drängen dir ihre Nähe auf - ob du willst oder nicht. Sie spüren, wie es dir geht. Und sie liess nicht locker. Und wäre Chicco noch da - mein Kater hätte es ihr gleichgetan. Der war da teilweise so etwas von sensibel.

Am Abend hatte ich mit Laura abgemacht - wir gingen Minigolfen und danach lecker essen. Sie weiss kaum etwas von meiner Diagnose, glaube ich. Irgendwie war unsere Freundschaft dazumal noch nicht so stark und sie war einfach eine Bekannte von der Berufsschule. In der Zwischenzeit sind wir beide aneinander gewachsen und doch erzähle ich es ja kaum jemandem. Nicht einmal meine Familie weiss es ganz. Ich habe mich über die Ablenkung gefreut, ganz klar. Vor allem war ich erleichtert, als die Sonne hinter den Wolken verschwand und nicht mehr so auf den Boden brannte. Fürs Minigolfen gerade sehr gut. Ich habe knapp gewonnen und wer weiss, vielleicht gibt es vor Amerika eine Revange. Das Abendessen war sehr lecker und weil wir früh dran waren, habe ich mit ihr und ihren Eltern noch einen Jass gemacht. Danach haben Laura und ihre Mutter mir ein Kartenspiel gezeigt und davon war ich erst recht begeistert. Auch da hoffe ich, kommen wir noch einmal vor meiner grossen Reise dazu.

Später rief mich Pupa an und meinte, ob ich bei ihr vorbeikommen wolle. Ich hatte mich ab Mittwoch nicht mehr bei ihr gemeldet. Es war zu viel und ja, sie weiss, wie ich mich zurückziehe, wenn es mir schlecht geht. Sie hatte es jeden Tag mehrfach versucht und am Samstag erst schaffte ich es, mich bei ihr zu melden. Meine Tür war offen und es war, bevor ich zu Laura fuhr. Zuerst wollte ich die Tür schliessen, dann aber liess ich es sein. Und es war vielleicht gar nicht so schlecht. Plötzlich sprudelte es aus mir heraus und mir war es egal, dass Mutti mithört. Ich sagte Pupa einfach, wie schlecht es mir geht, wie Menschen vergessen, was meine Bedürfnisse sind und einfach nicht verstehen, dass ich - seit ich zwölf bin - eine Maske mit mir herumtrage. Das ich nicht mehr kann und dieses Gefühl nicht einfach ungefragt kommt, sondern schon monatelang anhält und doch alle dies wieder vergessen. Dass ich wirklich keine Kraft mehr habe und es satt habe, so zu leben. Das ich nicht weitere fünfzig Jahre so durchmachen möchte und mir dies nie so ausgesucht habe. Irgendetwas in die Richtung. Ich glaube, Mama ist sehr erschrocken.

Als der Anruf beendet war und ich gehen wollte, stand sie bei mir in der Tür und meinte, dass ich mich einfach nur auf Amerika konzentrieren solle und danach würden wir weiterschauen. Die ganze Familie wäre ja da. Sie hat auch von meinen finanziellen Problemen und Sorgen mitbekommen und auch da meine Tüten gesehen, aber ich schüttelte lediglich resigniert den Kopf. Sie versteht einfach nicht, dass ich das weiss und mich natürlich glücklich schätze. Ich weiss, dass ich mit allem zu ihr gehen kann und mich meine Familie nie im Stich lassen würde. Und ich bin darüber wirklich dankbar.

Aber sie vergisst auch, dass es sich verschissen anfühlt. Das mich dieser Zustand stört und stresst und ich mich als Last für die Familie fühle. Das ich schon längstens ausgezogen und auf eigenen Beinen stehen wollen würde, aber es irgendwie nie geht. Und das ich es nach Amerika in die Hände nehmen wollte und nun wieder mit der Pensumreduktion daran gehindert werde. Das ich mich verschissen und als Versagerin fühle. Und vor allem mies. Weil ich eigentlich meinen Eltern schon lange einfach einen dicken Batzen zurückzahlen wollte, so als Dankeschön. Weil Eltern einfach von Geburt an so viel Geld für uns investieren und wir es unter Umständen nie zurück geben können. Weil Eltern sogar im Alter noch für ihre Kinder sparen, damit sie etwas von der Erbschaft haben. Und meine Geschwister und ich sind uns da gleicher Meinung: wir trichtern unseren Eltern immer wieder ein, dass sie für ihre Rente sparen sollen und ihr Leben geniessen sollen. Nicht auf uns und unsere Zukunft achten müssen, sondern ihr Leben so führen, wie sie wollen. Sich wünsche erfüllen.

Ich kann verstehen, sehen mich Menschen lachen und denken sich, dass ich es doch bis jetzt auch immer geschafft habe und ein Stehaufmännchen bin. Aber sie vergessen, dass es eine Maske ist. Und sie vergessen, dass ich ganz genau weiss, wie es sich vor meinem Zusammenbruch angefühlt hat und das ich diesem Zustand wieder gefährlich nahe bin. Das ich einfach keine Kraft mehr habe, immer kämpfen zu müssen und mit all dem herumschlagen zu müssen. Das ich einfach immer weniger den Sinn darin sehe, irgendwann einmal für all das entschädigt zu werden. Ich wiederhole mich, tut mir leid.

Es geht mir nach wie vor wirklich mies und ich hoffe einfach, dass ich in drei Wochen wirklich loslachen und mich auf Amerika konzentrieren kann. Menschen um mich herum freuen sich mehr, wie ich selbst. Und auch heute hat Mutti gemeint, ich solle mich auf Amerika konzentrieren, und danach schauen wir weiter. Und ich habe ihr einfach an den Kopf geworfen, dass es nicht um das verschissene Amerika geht, sondern schon lange einfach nicht stimmt und diese Gefühle nicht erst seit gestern wieder so mies sind.

Ich hasse mich, wie ich mir ihr gegenüber verhalte, ja. Vor allem, dass ich so aggressiv und zickig reagiere. Aber alles andere würde bedeuten, mich zu öffnen, darüber zu sprechen und Nähe zuzulassen. Schwäche zu zeigen und Gefühle zuzulassen. Und davor habe ich Angst. Das kann ich nicht. Schwäche zeigen. Schlimm. Und daher lieber von Beginn an Härte zeigen. Aber innerlich sehne ich mich einfach nach einer innigen Umarmung.

Ich war gestern spät noch spontan bei Pupa und es hat gut getan. Aber sobald ich im Auto sass, ging das Geheule wieder los. Und ja, ich habe auch Angst vor dieser Nacht. Und von den kommenden Tagen. Ich sage aktuell eine Unternehmung nach der anderen ab, weil ich einfach keine Kraft, keinen Bock mehr habe. Einfach nur irgendwie den Tag überstehen möchte. Aber tief im Grunde weiss, wie gut mir die Ablenkung tun würde. Es sind Hilferufe, ich weiss.

Tief im Innern denke ich mir, dass mein Ausbruch, welcher Mutti mitbekommen hat, nicht gross etwas an allem ändern wird. Mir kann niemand helfen, nur ich allein. Und auch, wenn ich weiss, ich könnte mir einen "zweiten Zusammenbruch" leisten und würde zu Hause aufgefangen werden - mit mir selbst könnte ich es nie vereinbaren und ich würde zu Grunde daran gehen. Weil ich weiss, dass ich die Sicherheit zu Hause habe. Aber innerlich nicht mehr damit klar komme und der Selbsthass, die Selbstzweifel und der Groll auf meinen Lebensweg nur vergrössern und bestärken.

Hui, es ist wieder mit dir durch. Bei der Arbeit gibt es einzelne, welche merken, dass ich eher "fahrig" unterwegs bin. Ich gebe mich meist, wie gewöhnlich und habe doch meine schwachen Momente. Ziehe mich bunt an und erhalte dafür Komplimente. Bin rund, aber liebe Kleider und wie schon einmal erwähnt: mein Selbsthass hat nichts mit meiner Körperfülle zu tun. Ich mag mich von aussen her, so, wie ich bin. Es ist eher ein innerlicher Kampf. Vor allem mag ich mich noch ein wenig mehr, seit ich in der Physio bin und meine Erfolge sehe. Ich laufe gerader und mein Rücken fühlt sich gestärkter. Mein Knie schmerzt kaum noch und auch sonst ziehe ich mich gerne bunt an. Ich ziehe keine Hotpants an, um Gotteswillen. Dafür stimmt die Figur dann nicht. Aber ich trage auch Hosen, welche in der Mitte der Oberschenkel enden, weil ich meine definierten Beine mag. 

Die Lehrtochter war süss und kam am Donnerstag und Freitag ein paar Mal zu mir und hielt ein Pläuschchen. Sie hat sich nicht getraut, direkt zu fragen, aber man hat gemerkt, dass sie spürte, dass es eher etwas schwierig ist im Büro aktuell für mich.

Am meisten habe ich mich über ein Telefonat intern gefreut, wo der Vorgesetzte des gewissen Mitarbeiters (mit dem mache ich seit ein paar Wochen immer mehr Spässe) als erstes in die Muschel sprach: "Nur noch drei Wochen, zambrottagirlie, was?!". Wie gesagt, es gibt Menschen, die freuen sich mehr für mich, wie ich mich für mich selbst.

Herrlich, wie der Wind gerade aufdreht und es regnet. Ich liebe Sommergewitter. Gleich werde ich noch kurz unter die Dusche springen und dann ins Bett liegen.

Der gewisse Mitarbeiter hat mich noch kurz beschäftigt am Freitag. Ich weiss nicht, ob genervt oder ob es mir einfach zu viel war, weil ich eh schon am Anschlag bin. Eigentlich fand ich seine Worte total süss und müsste mich eigentlich geschmeichelt fühlen. Es als Kompliment annehmen, so wie diese Sache mit der Stimme.

Ich musste ins Büro, wo er arbeitet und kam mit meinem zartgelben, lockeren, sommerlichen Kleid ins Büro. Bevor ich etwas sagen konnte, blickte er von seinem Schreibtisch auf und meinte mit glänzenden Augen: "Ja hallo! Lueg au emol do, s'Summerblüemli" oder "s'Sunnebluämli". Aber irgendetwas nettes mit Sonne. Das weiss ich noch. Ich lachte natürlich verlegen auf und innerlich verfluchte ich ihn. Wieder ein Kosenamen, der mich jedesmal daran erinnern wird, wenn ich das Kleid anschaue oder anziehe. Aber innerlich nahm ich es dann mal als Kompliment und im Nachhinein fand ich es wirklich eine sehr nette Geste, welche mich doch ein wenig aufgemuntert hat.

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